Zeitschrift für Ideengeschichte Heft VI/4 Winter 2012

Droge Theorie

Fiction & Literature
Cover of the book Zeitschrift für Ideengeschichte Heft VI/4 Winter 2012 by Jan Bürger, Ulrich Raulff, Matthias Kross, Liliane Weissberg, Morten Paul, Jost Philipp Klenner, Roger Chartier, C.H.Beck
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Author: Jan Bürger, Ulrich Raulff, Matthias Kross, Liliane Weissberg, Morten Paul, Jost Philipp Klenner, Roger Chartier ISBN: 9783406649875
Publisher: C.H.Beck Publication: December 21, 2012
Imprint: Language: German
Author: Jan Bürger, Ulrich Raulff, Matthias Kross, Liliane Weissberg, Morten Paul, Jost Philipp Klenner, Roger Chartier
ISBN: 9783406649875
Publisher: C.H.Beck
Publication: December 21, 2012
Imprint:
Language: German

Dieser Stoff kickte – auch wenn er aus sperrigem Vokabular zusammengebraut war. In den Sechzigerjahren stieg die Zahl der Abhängigen rasend schnell. Erst zirkulierte der Stoff in kleinen autonomen Gruppen, später wurde er in großen Mengen vornehmlich an den Universitäten feilgeboten. Extravenös wurde er eingenommen – durch reine Begriffsarbeit, durch die Exerzitien der Lektüre. Der Wirkung tat das keinen Abbruch. Die Droge hieß Theorie. Von ihr ging ein betörender Sirenengesang aus. Es war gerade der heruntergedimmte, asketische Sound, der einen Rausch entfaltete. Zwar schimmerte durch das aus dem Griechischen stammende Wort «theoria» schon immer die göttliche Signatur (theos). Aber erst in der Nachkriegszeit hat der Begriff seine alte unschuldige «Anschauung» verloren. Theorie war die Prämie, die höhere Erkenntnis versprach. Die Heilsvokabel in den Geisteswissenschaften. Dabei wirkten die abstrakten Theoriegebilde mit ihren formalen Modulen (‹Diskurs›, ‹Dispositiv›, ‹Struktur›, ‹Medien›) erst einmal wie eine Ausnüchterungsmaschine. Sie standen quer zum intuitiv Erlebten, waren frei von expressiven Energien. Es war das Einüben einer neuen, kalten Sprache, die das Verfahren der Argumentation der Sache selbst vorzog. Das Genre für eine statisch empfundene Zeit, in der die Geschichte zum Stillstand gekommen schien. Was der Begriffstheoretiker Reinhart Koselleck für die soziale Semantik seit der Aufklärung insgesamt nachzeichnete, könnte man im Kleinen auch an dem akademischen Grundbegriff «Theorie» zeigen: wie er seit den Sechzigerjahren demokratisiert und ideologisiert wurde. Bis man sich bei jeder Doktorarbeit in den Sozialwissenschaften zuerst durch den Hirsebrei des Methodenkapitels fressen musste. Wie Theorie zu einem modernen, umkämpften Parteibegriff wurde, mit allen Monopolisierungen und Diskriminierungen – «Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie» (Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1971) –, die die Karriere eines solchen Begriffes mit sich bringt. Heute hat der Begriff der Theorie längst seine Abendröte hinter sich. Die Zeiten, in denen Theorie die härteste Währung in den Geisteswissenschaften war, sind vorbei. Auch wenn Einzelne noch an der Nadel hängen, scheint die Theoriebedürftigkeit der Nachkriegsjahre selbst in den Zustand der Historisierung übergegangen zu sein. Was theoriesicher lange Jahre als naive Zugänge zur Wirklichkeit verspottet wurde, infiltriert heute wieder die Sachbücher – das Tagebuch, die Autobiographie, überhaupt die bunte, stimmungsvolle Welt der Narrationen. So sehr man es begrüßen kann, dass Theorie ihren alten Einschüchterungsgestus verloren hat, so bleibt auch ein wehmütiger Blick zurück. An Theorie als eine Schule des Denkens, an Texte, die Intensität verströmten und existentiell gelesen wurden. Was ist geblieben vom coolen Gestus der Weltbemächtigung im schwarzblauen Anzug? Was war Theorie? Seit 2009 wird das Archiv des Suhrkamp Verlages im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbereitet. Das Haus in der Lindenstraße in Frankfurt war lange Jahre die erste Theorieadresse des Landes. Kein Verlag hat die Theorieemphase so befeuert wie Suhrkamp mit seinen legendären Theorie-Reihen und seit 1973 mit den stw-Taschenbüchern. Und so stehen am Anfang dieser Ausgabe über Aufstieg und Fall einer mächtigen Vokabel auch Fundstücke aus dem Archiv dieses Verlages.

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Dieser Stoff kickte – auch wenn er aus sperrigem Vokabular zusammengebraut war. In den Sechzigerjahren stieg die Zahl der Abhängigen rasend schnell. Erst zirkulierte der Stoff in kleinen autonomen Gruppen, später wurde er in großen Mengen vornehmlich an den Universitäten feilgeboten. Extravenös wurde er eingenommen – durch reine Begriffsarbeit, durch die Exerzitien der Lektüre. Der Wirkung tat das keinen Abbruch. Die Droge hieß Theorie. Von ihr ging ein betörender Sirenengesang aus. Es war gerade der heruntergedimmte, asketische Sound, der einen Rausch entfaltete. Zwar schimmerte durch das aus dem Griechischen stammende Wort «theoria» schon immer die göttliche Signatur (theos). Aber erst in der Nachkriegszeit hat der Begriff seine alte unschuldige «Anschauung» verloren. Theorie war die Prämie, die höhere Erkenntnis versprach. Die Heilsvokabel in den Geisteswissenschaften. Dabei wirkten die abstrakten Theoriegebilde mit ihren formalen Modulen (‹Diskurs›, ‹Dispositiv›, ‹Struktur›, ‹Medien›) erst einmal wie eine Ausnüchterungsmaschine. Sie standen quer zum intuitiv Erlebten, waren frei von expressiven Energien. Es war das Einüben einer neuen, kalten Sprache, die das Verfahren der Argumentation der Sache selbst vorzog. Das Genre für eine statisch empfundene Zeit, in der die Geschichte zum Stillstand gekommen schien. Was der Begriffstheoretiker Reinhart Koselleck für die soziale Semantik seit der Aufklärung insgesamt nachzeichnete, könnte man im Kleinen auch an dem akademischen Grundbegriff «Theorie» zeigen: wie er seit den Sechzigerjahren demokratisiert und ideologisiert wurde. Bis man sich bei jeder Doktorarbeit in den Sozialwissenschaften zuerst durch den Hirsebrei des Methodenkapitels fressen musste. Wie Theorie zu einem modernen, umkämpften Parteibegriff wurde, mit allen Monopolisierungen und Diskriminierungen – «Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie» (Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1971) –, die die Karriere eines solchen Begriffes mit sich bringt. Heute hat der Begriff der Theorie längst seine Abendröte hinter sich. Die Zeiten, in denen Theorie die härteste Währung in den Geisteswissenschaften war, sind vorbei. Auch wenn Einzelne noch an der Nadel hängen, scheint die Theoriebedürftigkeit der Nachkriegsjahre selbst in den Zustand der Historisierung übergegangen zu sein. Was theoriesicher lange Jahre als naive Zugänge zur Wirklichkeit verspottet wurde, infiltriert heute wieder die Sachbücher – das Tagebuch, die Autobiographie, überhaupt die bunte, stimmungsvolle Welt der Narrationen. So sehr man es begrüßen kann, dass Theorie ihren alten Einschüchterungsgestus verloren hat, so bleibt auch ein wehmütiger Blick zurück. An Theorie als eine Schule des Denkens, an Texte, die Intensität verströmten und existentiell gelesen wurden. Was ist geblieben vom coolen Gestus der Weltbemächtigung im schwarzblauen Anzug? Was war Theorie? Seit 2009 wird das Archiv des Suhrkamp Verlages im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbereitet. Das Haus in der Lindenstraße in Frankfurt war lange Jahre die erste Theorieadresse des Landes. Kein Verlag hat die Theorieemphase so befeuert wie Suhrkamp mit seinen legendären Theorie-Reihen und seit 1973 mit den stw-Taschenbüchern. Und so stehen am Anfang dieser Ausgabe über Aufstieg und Fall einer mächtigen Vokabel auch Fundstücke aus dem Archiv dieses Verlages.

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